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„Es ist ein Wunder, dass es nicht jeden Tag Unfälle in Marseille gibt“, sagt ein anonymer Experte des TGI (Tribunal de grande instance de Marseille) unter Anderem in Bezug auf die Vorkommnisse am 05. November 2018 im Stadtteil Noailles, Marseille gegenüber dem belgischen Nachrichtenmedium Le Vif. Dort waren am Vormittag zwei marode Häuser eingestürzt, und hatten acht Menschen in den Trümmern unter sich begraben. Die Türen des ersten Hauses, welches bereits seit 2008 als baufällig eingestuft wird, waren zwar verriegelt oder zugemauert, doch von Nachbarn wird vermutet, dass sich Hausbesetzer dennoch einen Zugang verschafft haben. Im zweiten eingestürzten Haus, aus dem schon im September diesen Jahres Brocken der Fassade herausgebrochen waren, befanden sich neun Wohnungen, bewohnt von Paaren und Familien. Doch diese Häuser sind bei Weitem nicht die Einzigen, die sich in einem bedenklichen Zustand befinden. Eine staatliche Untersuchung des Jahres 2015 hat ergeben, dass 40‘000 Häuser (was circa 100‘000 Bewohner betrifft) „ein Risiko für die Gesundheit oder die Sicherheit“ darstellen. Im Stadtteil Noailles gelten gar 48 Prozent des Baubestandes als heruntergekommen und menschenunwürdig.

Der Zorn der Bewohner nimmt zu, berichtet Stuttgarter Nachrichten. Einerseits auf die Hausbesitzer, die selbst bei längst überfälligen Sanierungsarbeiten nur das Allernötigste zu tun pflegen; andererseits auf die Stadtverwaltung, die bei Renovierungsarbeiten der Häuser sowie auch beim Sozialwohnungsbau keinen Finger rührt. Wie francetinfo.tv schreibt, haben am 14. November 2018 bei einem Protestmarsch mit etwa 8000 Demonstranten Bürger, soziale Organisationen und Interessenverbände der Opfer gedacht. 

Der Mangel an Sozialwohnungen sei es auch, was viele Menschen dazu zwänge, in baufällige Häuser zu ziehen, meint Florent Houdmon gegenüber Le Vif, der sich für die Stiftung Abbé Pierre im Grossraum Marseille gegen Armut und Wohnungsnot einsetzt. Solche Zustände gäbe es nirgendwo sonst in Frankreich. Dass ausgerechnet die Häuser der Armen einstürzen, sei kein Zufall, dessen ist sich auch der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon von France Insoumise sicher, wenn er die Gedanken zahlreicher Bewohner Marseilles ausspricht.

Eine technische Erklärung für die Einstürze könnten die Tage zuvor aufgetretenen Regenfälle sein, welche auch für die Risse in den Wänden und eine nicht mehr in den Rahmen passende Haustür verantwortlich gemacht werden. Dennoch erklärt dies nicht die fehlende Umsetzung des bereits 20 Jahre zuvor beschlossenen Grundsatzes zur Sanierung, wie Patrick Lacoste von der Bürgerinitiative „Ein Stadtzentrum für alle“ gegenüber Le Vif klar stellt. Nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung. Jean-Claude Gaudin, seit 1995 Bürgermeister von Marseille, der aufgrund der Vorkommnisse stark kritisiert wurde, gab am Sonntag danach erstmals zu, nicht genug getan zu haben im Kampf gegen die heruntergekommenen Wohnverhältnisse. Einsicht als erster Schritt zur Besserung? Es wird sich zeigen. Bleibt zu hoffen, dass dieser Vorfall ein einmaliges Exempel bleibt, welches die Stadtverwaltung zum Handeln bringt.

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